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Zwei Jahre nach Erscheinen der Verwirrungen des Zöglings Törleß haben Carl Stumpf als erster und Alois Riehl als zweiter Begutachter Robert Musils Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs als Dissertation angenommen.(1) Musils Beitrag liegt vor allem in der Darstellung der Erkenntnisse Machs und der Entschlüsselung des Irrtums, dem dieser Physiker unterliegt, insofern er aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine philosophische Erkenntnistheorie ableitet. In diesem Sinne untersucht Musil das Gesamtwerk Machs, aber vor allem sein 1905 erschienenes Spätwerk Erkenntnis und Irrtum.

Vorausgesetzt, daß die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis eine philosophische Frage ist, begibt sich Mach im genannten Buch, aber auch in zahlreichen Randbemerkungen seiner übrigen Arbeiten in "philosophische Regionen", auch wenn er den Anspruch, selbst ein Philosoph zu sein, bescheiden und vehement zurückweist: „Ohne im geringsten Philosoph zu sein oder auch nur heißen zu wollen, hat der Naturforscher ein starkes Bedürfnis, die Vorgänge zu durchschauen, durch welche er seine Kenntnisse erwirbt und erweitert.“(2)

Mit anderen Worten: der Physiker interessiert sich nicht bloß für den Gegenstand seiner Erkenntnis, sondern auch für die Voraussetzung (die Bedingung der Möglichkeit) der Erkenntnis, womit er die Grenzen seiner Wissenschaft aber überschreitet (d.h.transzendiert). Damit beginnt er aber zu philosophieren, wenn man davon ausgeht, daß Mach nicht bloß Wissenschaftsgeschichte schreiben oder psychologische Motivforschung betreiben wollte. Man kann davon ausgehen, wenn man berücksichtigt, daß Mach Skizzen zur Psychologie der Forschung (wie sein Spätwerk im Untertitel heißt) liefern wollte. Nicht die Psychologie des Forschers, sondern die Psychologie der Forschung, d.h. aber die Erkenntnisart ist somit Gegenstand von Machs Untersuchungen.

Kant hat jede Erkenntnis, die' sich nicht nur mit Gegenständen, sondern auch mit der Erkenntnisart. beschäftigt, transzendental genannt. Indem Mach nun ablehnt, sich überhaupt auf eine solche Unterscheidung zwischen transzendentaler und wissenschaftlicher Erkenntnis einzulassen, unterläuft ihm von Anfang an ein doppelter Irrtum.

Weil er "das Land des Transcendenten" meiden will, erklärt Mach ausdrücklich, "gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher" zu sein.(3) In einer scharfen Kritik an Hönigswalds Zur Kritik der Machsehen Philosophie (Berlin 1903), wird diese Behauptung präzisiert (noch immer im Topos der Bescheidenheit). Es gibt vor allem keine Machsche Philosophie, sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Methodologie und Erkenntnispsychologie, und beide sind, wie alle naturwissenschaftliche Theorien vorläufige, unvollkommene Versuche.(4)

Mach defIniert nochmals das Selbstverständnis seiner Arbeit, „zunächst habe ich getrachtet, nicht etwa eine neue Philosophie in die Naturwissenschaft einzuftihren, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen“,(5) um sein Vorwort mit der überraschenden Wendung zu beschließen: „Vielleicht erkennen sogar die Philosophen einmal in meinem Unternehmen eine philosophische Läuterung der naturwissenschaftlichen Methodologie und kommen ihrerseits einen. Schritt entgegen. (6)

In einem zweiten Argumentationsstrang distanziert sich Mach zunächst von jenen Naturforschern, die "durch ihre Anhänglichkeit an Kantsche Gedanken zu recht wunderlichen Auffassungen sehr einfacher naturwissenschaftlicher Fragen gedrängt worden" seien.(7) In seiner Abgrenzung gegen Kant sieht er sich im Einklang mit "namhaften Philosophen, wie Avenarius, Schuppe, Ziehen u.a.,"(8) indem er konstatiert: "Das Land des Transcendenten ist mir verschlossen."(9) Offenbar siedelt er auch Kant in diesem Lande an, wenn man sich vor Augen hält, wie vehement Mach in seiner erwähnten Kritik an Hönigswald eine gemeinsame Basis für eine Diskussion mit Kant für ausgeschlossen hält.

Nun liegt aber Machs .doppelter Irrtum offen vor uns: aufgrund seiner falschen Gleichsetzung von transzendent ( = metaphysisch) und transzendental (= erkenntniskritisch, vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 25) kann er, erstens, seinen eigenen implizit transzendentalphilosophischen Anspruch nicht erkennen. Und ob er, zweitens, die Anrede als Philosoph bescheiden oder empört zurückweist, in beiden Fällen scWeicht sich der philosophische Anspruch durch die Hintertür ein, und zieht sich gerade deshalb als unreflektierte Voraussetzung durch Machs Gesamtwerk.

Eben da setzt Musil an. Er will keine umfassende erkenntnistheoretische Abhandlung anfertigen, in der er die Ergebnisse von Machs Untersuchungen auf ihre Richtigkeit überpruft, sondern bloß die "Stringenz ihrer Begründung" (D 12) untersuchen. Dabei vermeidet er, Mach aus der Perspektive anderer Philosopheme zu beurteilen, und beschränkt sich darauf, „in jmmanenter Kritik nachzuweisen, daß in den Darlegungen Machs, trotz ihrer zahlreichen Vorzüge, doch so viele Widersprüche oder wenigstens Unklarheiten enthalten sind, daß es nicht möglich ist, ihnen eine entscheidende Bedeutung zuzuerkennen.“ (12)

G. H. Wright hat im Vorwort zur englischen Ausgabe aus dieser Passage den Schluß gezogen, „one gets from these lines the impression that Musil was anxious to stress his unwillingness to commit hirnself to any alternative to Mach's philosophy. Considering this and also the fact that Musils "immanent criticism" of Mach is not always very convincing, one can weH understand the reserved attitude of Stumpf to the dissertation. The merits of the work, it seems to me, He in the concise and lucid presentation rather than in the criticism or attempted refutation of Mach's philosophy of science.“(lO)

Sicher beschränkt sich Musil in weiten Zügen auf die Darstellung, aber, wie ich meine, immer in Hinsicht auf die Kritik, d.h. Mit dem Ziel, die inneren Widerspruche selbst sprechen zu lassen. Ist Robert Musils Beitrag zur Beurteilung der Lehren M achs also eine philosophisch relevante, erkenntnistheoretische Untersuchung? In Beantwortung dieser Frage will ich in folgenden Punkten deskriptiv der Darstellung Musils folgen.

1. Die ökonomische Betrachtungsweise.

2. Das Verhältnis von Hypothese und Tatsache.

3. Die Bedeutung der Kausalität und ihr Ersatz durch den

Funktionsbegriff.

4. Die Leugnung der Naturnotwendigkeit und die endgültigen

inneren Widerspruche.

ad 1: Die ökonomische Betrachtungsweise

Für den Naturwissenschafter ist - in der Grundannahrne von

Mach - .nur die Kenntnis der Tatsachen von Bedeutung. Um sich in der Fülle von Tatsachen zurecht zu fmden, und vor allem um sie praktisch verwerten zu können, muß der Physiker die vorhandenen Fakten ordnen, neue Fakten kontinuierlich integrieren und alte, "verbrauchte" Fakten, ganz nach ökonomischen Gesichtspunkten, eliminieren. Aber nicht erst der Wissenschafter handelt nach dem Prinzip der Ökonomie und Kontinuität, sondern das Bewußtsein selbst ist als ökonomisches Instrument entstanden: der Mensch paßt seine Vorstellungen (bzw. Gedanken, worin Mach keine Differenz sieht) zunächst den Tatsachen an, und bildet durch Assoziation von Vorstellungen und Tatsachen seine Begriffe. Analog zum Murmeltier, das auf die Tatsache eines herannahenden Adlers den Begriff "Gefahr" assoziert, und darauf mit einem Warnruf reagiert, bildet sich der Mensch seine Begriffe und vermittelt sie durch Worte.

Mach: „Der Mensch bildet seine Begriffe in derselben Weise wie das Tier, wird aber durch die Sprache und durch den Verkehr mit den Genossen, welche beiden Mittel dem Tier nur geringe Hilfe leisten, mächtig unterstützt.“ (11)

Die vorliegende Problematik, wie eine sprachunabhängige Begriffsbildung möglich sein soll, und warum der Mensch, aber nicht das Tier, zur Sprache fmdet, wo sie doch "in derselben Weise" ihre Begriffe bilden, wird von Musil nicht aufgegriffen. Das Ökonomieprinzip liegt also in der Entstehung des Bewußtseins, steuert aber auch die Funktion desselben. Die erste Funktion liegt in der Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, die zweite in der Anpassung der Gedanken aneinander. Damit will Mach das Typische des menschlichen Bewußtseins allgemein charakterisiert haben, und behauptet seine Gültigkeit natürlich auch für das wissenschaftliche Denken.

Hier fügt Musil eine erste kritische Stellungnahme ein. Er meint, Machs "denkökonomische Betrachtungsweise kann in erkenntnistheoretischer Hinsicht indifferent oder skeptisch sein" (D 21). Sie ist indifferent, insofern sie wesentlichen erkenntnistheoretischen Fragestellungen (z.B. der "Frage, wann das Resultat eines Gedankenablaufes ... als richtig anzuerkennen sei", D. 22) gleichgültig gegenübersteht. Machs Betrachtungsweise ist aber skeptisch sobald behauptet wird, daß solche Problemstellungen irrelevant oder unbeantwortbar seien. Aber dann müßte das Ökonomieprinzip eine allgemeine Grundlage, ein allumfassendes Prinzip für eine Erkenntnistheorie sein. Musil findet zunächst Anhaltspunkte für beide Auffassungen.

ad 2: Das Verhältnis von Hypothese und Tatsache

In der Analyse der Beziehung zwischen Hypothesen und Tatsachen verstärken sich allerdings die Argumente für eine skeptische Auffassung: die Hypothesen sind bloß Analogien, Bilderoder - wie Mach sie nennt -indirekte Beschreibungen. Hypothesen sind also nicht imstande, eine "hinter" den Erscheinungen liegende Wahrheit zu explizieren, sondern sind bloß Mittel zu Beherrschung der Tatsachen. Mach zerstört den eigenständigen Wert der Hypothesen durch den Nachweis, daß eine Tatsache durch mehrere, einander widersprechende Hypothesen erklärt werden kann. Eine indirekte Beschreibung hat nur solange Berechtigung, wie sie (ökonomisch) zweckdienlich ist. Sie soll daher durch eine direkte Beschreibung, „welche nichts Unwesentliches mehr enthält und sich lediglich auf die begriffliche Fassung der Thatsachen beschränkt“, (12) ersetzt werden.

Musil folgert daraus: „Mach hält das ursprüngliche Ziel der mechanischen Physik sowohl für unerreichbar wie für zwecklos, so daß von ihren theoretischen Gebilden tatsächlich nur deren ökonomische Eignung für eine Darstellung der Erscheinungen von Wert bleibt und in

Betracht kommt.“ (D 44)

ad 3: Die Bedeutung der Kausalität

Das Wissenschaftsideal kausaler Analyse, das sein Ziel im Auffmden letzter unveränderlicher Ursachen sieht, erklärt Mach für unerreichbar und letzlich für verfehlt. Er macht sich darüber lustig: „Die alte, hergebrachte Vorstellung von der Causalität ist etwas ungelenkig: einer Dosis Ursache folgt eine Dosis Wirkung.“(13) Er meint, daß die tatsächlichen Zusammenhänge in der Natur viel komplexer sind, sodaß es nirgends eine Ursache gibt, sondern überall nur "Abhängigkeit der Erscheinungen voneinander,"(14) die er zusammenfaßt im Funktionsbegriff.

Mach bringt dafür folgende Argumente: genaue Wiederholungen von Ursache-Wirkungs-Ketten kommen in der Natur nicht vor, sondern lediglich in der begrifflichen Abstraktion der Wissenschaft. Die behauptete Kausalität beruht also auf ungenauer Beobachtung, denn es gibt keine einfache Verknüpfung, sondern nur eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen, wobei die Wirkung meist auf die Ursache zurückwirkt, und so selbst gleichzeitig Ursache ist. Funktionale Beziehungen sind daher „solche, welche die quantitative Abhängigkeit der meßbaren Bestimmungsstücke der Erscheinungen voneinadner ausdrücken.“ (D 62)

Über Machs Ablehnung der Kausalität und ihrer Auflösung im Funktionsbegriff gelangt Musil zurück zum Kern des Ökonomieprinzips, das eben durch den Funktionsbegriff zum ausschließlichen Prinzip der Erkenntnistheorie wird. Denn das Kausalgesetz ist keine von den Tatsachen abstrahierbare "höhere" Wahrheit, sondern lediglich ein Ordnungskriterium, das die Forschung ökonomisch rationalisiert. So wird nicht nur das Kausalgesetz, sondern jedes Naturgesetz reduziert auf die Beschreibung funktionaler Abhängigkeiten.„Ihrem Ursprung nach sind die "Naturgesetze" Einschränkungen, die wir unter Leitung der Erfahrung unserer Erwartung vorschreiben.“ (15)

Der Ursprung der Naturgesetze entspricht im weiteren auch ihrer Funktion, nämlich dem ökonomischen Prinzip, d.h. dem biologischen Interesse, d.h. dem psychologischen Bedürfnis, uns in der Natur zurecht zu finden, den Vorgängen nicht fremd und verwirrt gegenüber zu stehn. (l6)

ad.4: Die Leugnung der Naturnotwendigkeit

Musil war im vorigen Abschnitt nur zaghaft bemüht, gegen Mach den Kausalbegriff (und die Möglichkeit von Substanzbegriffen) zu retten. Im letzten Abschnitt versucht er aber seinen Anspruch einzulösen, innere Widersprüche in Machs Argumentation nachzuweisen. Er liefert dazu zwar keine systematische Kritik, aber schon mit der unvollständigen Deduktion seiner Argumente leistet er eine vollkommene Destruktion der Voraussetzungen von Machs Erkenntnistheorie.

Musil zitiert ausführlich Machs Verständnis der Naturgesetze. Mach betrachtet die Naturgesetze als bloße Tabellen einzelner Tatsachen, Ableitungsregeln, Herstellungsregeln, kompendiöse Anweisungen für das Gedächtnis. (D 88)

Die Naturgesetze entsprechen vor allem dem praktischen Bedürfnis, neue Tatsachen einzuordnen. Ihr Wert liegt also nicht höher als der einzelner Tatsachen, sie ermöglichen nur einen bequemen, ökonomischeren Umgang mit den Tatsachen. Indem sie von der Mannigfaltigkeit der Tatsachen absehen, dringen die Naturgesetze aber "nicht zur Substanz der Dinge vor, sondern idealisieren, diese nur.

Daraus ergibt sich aber die Frage, ob der mit den Naturgesetzen verknüpfte Begriff der Notwendigkeit noch haltbar ist. Aus Machs dezidierter Behauptung, daß es keine physikalische, sondern nur eine logische Notwendigkeit gebe, folgt, daß es in der Natur nichts Adäquates gibt. Mach verwendet den Begriff "logisch" allerdings im Sinne von "psychologisch", etwa durch die Behauptung, daß Naturgesetze insofern notwendig seien, als der Mensch in Regelmäßigkeiten Sicherheit suche. Ob Mach den Begriff der Notwendigkeit logisch oder psychologisch verwendet, in beiden Fällen läßt sich die Leugnung der Naturnotwendigkeit nicht relativieren, sonst „müßten wir als folgenschwere Irrtümer all jene gehörten Äußerungen bezeichnen, die mit direkten Worten sagen, daß es eine Naturnotwendigkeit überhaupt nicht gebe.“ (D 95)

Wolf gang Grassl hat in seinem unveröffentlichten Aufsatz Robert Musil as a Philosopher(17) diese Argumentation scharf kritisiert: „If Musil appear to be a sceptic not willing to fully join in the positivist revolt against metapysics, he presents hirns elf as an outright counterrevolutionary in his call for the resurection of the notion of natural necessity.” Grassl schwächt dieses Urteil etwas ab, indem er zugesteht: „Musil's transcendent use of the ontological categories of substance, necessety and causation nevertheless reveals a significant analogy with Stumpfs causal realism.”

Es findet sich in dieser Bemerkung die schon bei Mach kritisierte Verwechslung zwischen transzendent und transzendental. Musils immanenter Kritik an Machs Erkenntnistheorie liegt sicher kein naiv metaphysisches Anliegen zugrunde, sondern ist selbst implizit ein erkenntniskritisches Unternehmen. Das zeigt auch eine letzte Abgrenzung gegenüber Machs Erkenntnistheorie.

Mach hält dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, bzw. zwischen Ich und Welt, bzw. zwischen Erkennendem und Erkanntem einen radikalen Monismus entgegen. Man kann diesen Monismus als Sensualismus bezeichnen, weil er auf einer Gleichsetzung der vom Naturwissenschafter untersuchten physikalischen Elemente und der mit ilmen verknüpften psychischen Empfmdungen beruht. Zu sagen, die Empfmdungen resultieren aus den Elementen, wäre demgemäß falsch. Das würde den Begriff eines Ding an sich nahelegen, gegen den Mach allerdings polemisiert: „nicht die Dinge, sondern was wir gewöhnlich Empfindungen nennen, sind eigentliche Elemente der Welt“. (zitiert nach D 110)

Anders gesagt: die Tatsachen setzen sich zusammen aus Elementen (d.h. Empfmdungen) wie Farben, Tönen, Räumen, Zeiten, Temperaturen u.s.w.,welche aus physikalischer oder aus psychologischer Sicht betrachtet werden können, die deswegen aber nicht einmal der Außenwelt und ein anderes Mal der Innenwelt angehören. „Diese Scheidung bekämpft Mach, nach ihm sind Rot, Ausgedehnt u. dgl. sozusagen schon die Elemente an sich, und ihre vermeintliche DoppelsteIlung zwischen Physischem und Psychischem beruht nur auf einem Wechsel und einer Verwechslung der Perspektive.“ (D 112)

Musil greift die volle Problematik, die in diesem Begriff der Elemente liegt, nicht auf, trifft mit ihrer Charakterisierung als "Elemente an sich" aber haarscharf den wunden Punkt in Machs Erkenntnistheorie. Mach verwendet den Begriff "Elemente" anders als er in der heutigen atomistischen Physik gebräuchlich ist. (Eine Entwicklung, gegen die er übrigens heftig polemisiert.) Ausgehend von einer 3-Welten-Theorie (1. die physikalischen Elemente im weitesten Sinne, ABC..., 2. der Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, d.i. unser Leib, KLM..., 3. die eigentlichen psychischen Elemente aßv ...) sieht Mach die Bereiche ABC, KLM, und aßv in einer untrennbaren Einheit, d.h. in einer wechselseitigen Abhängigkeit stehen. Liegt diese wechselseitige Abhängigkeit aber in der Natur der Elemente, so sind die Elemente ABC „immer an das Vorhandensein von KLM gebunden, denn wo es beispielsweise keine Netzhaut gibt, dort gibt es auch keine Farbe, oder diese Farbe dürfte kein Mach'sches Element, müßte etwas hinter dem Inhalt sein.“ (D 118)

Das führt aber zur Auflösung einer realen Außenwelt und damit zu einem Idealismus a la Berkeley: (Musils Dissertationsvater Carl Stumpf hat in seiner 1938/40 posthum erschienenen Erkenntnislehre Mach tatsächlich so interpretiert.) (18) Oder aber, Mach will damit nicht mehr sagen, als daß die angeführte Differenzierung für eine Wissenschaft ökonomisch (beispielsweise in Hinsicht auf Spezialisierung) sinnvoll ist. „Wir haben hier also tatsächlich wieder die gleiche Alternative: entweder führt sich Mach selbst ad absurdum, oder das Argument fließt in die bisherigen ein.“ (D 119)

Von hier aus beleuchtet Musil nochmals Machs Leugnung der Naturnotwendigkeit. Er zitiert eine Reihe von Aussagen, die dieser Leugnung aber deutlich widersprechen, etwa wo Mach Beständigkeit der Elemente annimmt, oder wo er Regelmäßigkeit, eindeutige Bestimmbarkeit und Vorhersage der Tatsachen anerkennt. Beharrt Mach also auf der Leugnung der Notwendigkeit (etwa mit dem Argument, daß ABC nur deshalb als Naturgesetze erscheinen mögen, weil sie über die sinnliche Wahrnehmung KLM im Bereich aßv idealisiert werden), so gerät er in Widerspruch, mit den eben zitierten Stellen. Beruht aber' die Leugnung der Notwendigkeit auf einem Mißverständnis, d.h. Auf einer falschen Interpretation von Musil, sodaß man (gemäß Mach) behaupten könnte, die Notwendigkeit liege in den Tatsachen begründet, werde also nicht erst durch Idealisierung in die Tatsachen hineingetragen,so verlieren wieder alle früher dargestellten Anschauungen die Berechtigung ihres spezifischen Charakters; das Gesetz ist dann nicht bloß eine Tabelle, [ ... ] der theoretische Zusammenhang kann mehr sein als eine bloße Ordnungsbeziehung, auf Grund der voneinander verschiedenen Typen physikalischer und psychologischer Gesetze treten Empfindung und Gesetz wieder auseinander, mit dieser Abtrennung von Dingen, die untereinander in gesetzlicher Abhängigkeit stehen, ist wieder eine Möglichkeit der Kausalität geschaffen worden usw.“ (D 123)

Den inneren Widersprochen in Machs Erkenntnistheorie kann man von da her nicht entkommen, oder, wie lan Aler aus der Perspektive Husserls meint: „Die Doktorarbeit thematisiert - anders als die Logischen Untersuchungen - nicht an erster Stelle die selbstzerstörerische Tendenz der Machschen Theorie als Theorie, hier im Schlußkapitel aber kommt unerbittlich ans Licht, daß diese sich selbst aufheben muß.“ (19)

 

Resümee

In Musils Dissertation finden sich wenige neue philosophische Inhalte. Auch die erkenntnistheoretische Leistung hält sich in Grenzen, nämlich innerhalb der Grenzen einer immanenten Kritik, die sich nicht darum bemüht, die Destruktion von Machs Erkenntnistheorie durch die Konstruktion einer fundierteren Erkenntnistheorie zu überwinden. Aber es zeigen sich in der Dissertation schon Ansätze einer Methode des Philosophierens, die im MoE weiterentwickelt und erst richtig entfaltet worden sind:

1. Musil verharrt im System Machs eigentlich nur, um sich davon kritisch zu distanzieren. Und ähnlich präsentiert er im MoE verschiedenste Philosopheme, um sich (oft im gleichen Satz) wieder davon abzuwenden.

2. Musil nimmt Mach beim Wort und weist ihm damit innere Widerspruche nach. Und genauso nimmt er im MoE aktuelle und traditionelle philosophische Ideen wörtlich, und zeigt so ihren ganzen Inhalt, d.h. auch die Grenzen ihrer Aussagekraft.

Kurz: Die immanente Kritik findet sich in der Ironie wieder.


Anmerkungen:

1 Die Dissertation wird zitiert nach der Originalpaginierung, mit der

Abkürzung D. Diese 1980 in.einem Reprint wieder aufgelegte Arbeit

sollte sich der interessierte Leser am besten kopieren, was allenfalls

ein Drittel des Kaufpreises ausmacht. Ich erwähne das nicht nur, um

meinen eigenen Ressentiments gegen den Rowohlt-Verlag Luft zu

machen, sondern weil es zumindest ein schlechter Witz ist, daß

Musils Dissertation in Übersetzungen günstiger erhältlich ist, als die

deutsche Ausgabe, die zudem voll von Druckfehlern ist.

2 Erkenntnis und Irrtum, Vorwort, V

3 E.u.I., Vorwort, VII

4 E.u.I., Vorwort, VII

5 E.u.I., Vorwort, VIII

6 E.u.I, Vorwort, IX

7 E.u.I., Vorwort, VI

8 E.u.I., Vorwort, VII

9 E.u.l., Vorwort, VII

10 Musil and Mach, in: Robert Musil, On Machs Theories, München-

Wien, 1982, S. 11

11 E.u.I., S. 126

12 Populärwissenschaftliche Vorlesungen, S. 263

13 Analyse der Empfindungen, S. 66

14 A.d.E., S. 66

15 E.u.l., S. 441

16 E.u.I., S. 445f

17 Lecture delivered in the coloquium on "Phenomenology and its

Applications", University of Edinburgh, March 1981

18 a.a.O., S. 588f

19 Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach, a.a.O., S. 276

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