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12.1.2016 - Zu Jahresbeginn hab ich im Ramschladen drei Romane gekauft. Ramschladen, ein wirklich bösartiger Begriff für Buchhandlungen, in denen hochwertige Bücher – nach offizieller Sprachregelung der Verlage – verramscht werden. Auf der Unterkante abgestempelt als „Mängelexemplar“. Und manche Taschenbücher erhalten sogar einen doppelten Dolchstoß verpasst, um ihre Mangelhaftigkeit nochmals physikalisch zu demonstrieren. Ich frage mich, wie die Verlage e-books verramschen, aber das ist ein anderes Thema.

 

Wie der Zufall – was immer das sein mag – so will (ein Zufall mit eigenem Willen?), … wie auch immer, wählte ich drei Romane, die einen gemeinsamen Nenner haben: einen, bzw. sogar jeweils mehrere Ich-Erzähler. Wikipedia schreibt über dieses „typologische Modell der Erzählsituationen“:  „Diese Erzählsituation erscheint natürlich. Wenn jemand erzählt, was ihm passiert ist, spricht er ebenfalls aus der Ich-Perspektive. In der Regel ist diese Perspektive besonders geeignet, ein Identitätsgefühl mit dem Erzähler beim Leser zu wecken. Das Gefühl also, der Leser erlebe selbst, was dem Erzähler als Figur des Textes geschieht.“

 

In den drei Romanen, die mir also zugefallen sind, ist diese Intention nachvollziehbar. Allerdings sind die Autoren meiner Einschätzung nach daran gescheitert.

 

Beispiel 1: Daniel Kehlmann, „F“

F wie faszinierend. In Stil, Dramaturgie und Leichtigkeit des Erzählflusses. F wie Fatum. Was ist vom Schicksal vorherbestimmt, was entscheiden wir selbst? Und woran glauben wir (oft wider besseres Wissen)?


Diese Fragen stellen sich die Ich-Erzähler des Romans „F“, die Zwillingsbrüder Eric und Iwan, sowie ihr älterer Halbbruder Martin, Kinder der 1970er Jahre. Am Anfang steht die Show eines Hypnotiseurs, die der erfolglose Schriftsteller Arthur „F“riedland mit seinen drei halbwüchsigen Söhnen besucht. Gegen seinen Willen wird Arthur hypnotisiert, lässt daraufhin seine Söhne sitzen und kehrt als erfolgreicher Schriftsteller in die Welt, aber nicht in seine „F“amilie(n) zurück.


Danach tritt Martin als Ich-Erzähler auf. Seine verklemmten Annäherungsversuche an pubertierende Mädchen scheitern. Er flieht in die Theologie und verfettet als Priester. Während das "F"ett zunimmt schwindet sein Glaube. Als Ersatzbefriedigung bleibt der Rubik-Würfel. Was er vom Leben weiß, kann er nicht mit dem in Einklang bringen, was er glauben soll. Als nächster erzählt Eric seine Success Story. Der Karrierist scheitert an der „F“inanzkrise und findet dadurch zum Glauben. Früh verliert dagegen Iwan den Glauben an sich selbst. Er will zunächst Künstler werden, scheitert aber an der eigenen Mittelmäßigkeit. Später wird er Assistent eines mittelmäßigen Malers, den er mit klugem Kalkül und talentierten „F“älschungen an die Spitze des Kunstmarktes hievt.


Die einzige Schwäche des Romans ist der dreifache Wechsel der Erzählperspektive. Daniel Kehlmann ist ein ungewöhnlicher, vielleicht sogar ein begnadeter Erzähler, Gedanken, die er in seine Erzählungen einfließen lässt, wirken manchmal schablonenhaft, aber immer authentisch, passend zu den jeweiligen Charakteren. Durch den Kunstgriff der Ich-Perspektive werden seine Figuren in keiner Weise „authentischer“. Im Gegenteil: wenn Eric bis ins Delirium, wenn Iwan bis in den Tod in F-einst geschliFFenen F-ormulierungen innere Monologe führen, ist das einfach unglaubwürdig.


Dadurch wirkt der Roman „F“ so, als würde ein Maler seine hyperrealistischen Ölgemälde nur als Fotoreproduktionen auf Leinwand ausstellen.

 

Beispiel 2: Gerhard Roth, „Das Labyrinth“

Chronisch. Chronologisch. Chronikal.


Chronisch wie chronisch krank. Krank wie geisteskrank, wahnsinnig oder ganz einfach nicht von dieser Welt. Das - und eine Uhr des letzten Habsburgerkaisers Karl I. - sind die Hauptfiguren des Romans. Mehrere Ich-Erzähler berichten chronologisch in sechs Büchern und Epilogen, die die Autorenschaft der Niederschriften in Frage stellen. Aber diese Verwirrspielchen verschleiern nur mangelhaft, dass hier nur einer erzählt: Gerhard Roth. Und das in epischer Breite, chronologisch stromlinienförmig wie ein Dokumentarfilm, chronikal fehlerfrei wie ein historisches Lexikon. Und genau so spannend wie ein Chronometer, das nie stehen bleibt und dessen Zeiger ganz sicher nie in die umgekehrte Richtung laufen.

 

Beispiel 3: Frédéric Beigbeder, „Windows on the World“

Ein Buch mit zwei Ich-Erzählern. Zum einen der Vater zweier halbwüchsiger Knaben („Blagen“), die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Zum Frühstück im Windows on the World, dem Restaurant im 107. Stock des Worldtrade Center, am 11. September 2001. (S. 63/64) Zum anderen der Autor, ein Jahr später im Ciel de Paris auf der 56. Etage des Tour Montparnasse, der darüber reflektiert, ob es angemessen sei über 9/11 einen Roman zu schreiben und – den programmierten Bestseller im Talon – damit Geld zu verdienen: „Werde ich nach der Veröffentlichung meines Romans noch in den Spiegel sehen können?“ (S. 154).


Hier geht es nicht um fundamentale moralische Fragen, die 9/11 aufwirft, sondern um die moralinsaure Selbstbespiegelung des Autors FB, dessen Phantasie nicht ansatzweise ausreicht den Horror im WTC zu beschreiben, und dessen Sprache nicht im geringsten geeignet ist, Entsetzen, Erschütterung, Panik und Sprachlosigkeit der betroffenen Menschen zu artikulieren.
Ein Buch mit zwei Ich-Erzählern. Das ist mindestens ein Ich zu viel.

 

Nachsatz: Kehlmanns „F“, 2013 noch „Spiegel Bestseller Platz 1“ und drei Jahre später schon verramscht. Da stellt sich die Frage: wie macht man einen Bestseller?

 

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