Was an Michael Wolffsohn (geb. 1947) am meisten überrascht ist seine Beamtenkarriere. Er lehrte von 1981 bis 2012 an der Universität der Bundeswehr München Neuere Geschichte, wie wikipedia weiß. Hier erfährt der Leser auch, dass er immer wieder in deutschen Talkshows mit nonkonformen Bemerkungen aufgefallen ist. So sagte er 2004 bei Maischberger. „Wenn wir mit Gentleman-Methoden den Terrorismus bekämpfen wollen, werden wir scheitern. […] Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim.“ Weiters zählt wiki 16 Auszeichnungen und 16 Bücher des Historikers auf. Fast scheint es, als hätte jedes seiner Bücher eine Auszeichnung bekommen. Doch es war auch eine Auszeichnung der Gartenstadt Atlantic beim Wettbewerb „Das beste Konzept für innerstädtisches Wohnen“ dabei. | |
2015 erschien sein Buch „Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf“. Schon einleitend bekennt Wolffsohn: „Der Titel verspricht mehr, als ich halten kann.“ In Geschichte und Gegenwart hat der Autor sechs Möglichkeiten zur Problembewältigung gefunden:
Möglichkeit 1 ist die Dominanz der Gruppe A über die Gruppen B, C usw
Möglichkeit 2 besteht in der Diktatur einer oder mehrerer Personen
Möglichkeit 3: Bürger- oder zwischenstaatliche Kriege.
Möglichkeit 4: Ethnische Säuberung
Möglichkeit 5: Siedlungspolitik, de facto die verstärkte Besiedlung des Besiegten durch die Sieger
Möglichkeit 6: die einzig wirklich friedliche: die föderative Lösung. Nur durch vielfältige föderative Strukturen kann man zu einem Interessenausgleich zwischen Minderheiten und Mehrheiten finden.
Dazu eine provokante Forderung: „Das falsche Denken im völkerrechtlich gesetzten Rahmen unantastbarer souveräner, dauerhafter Nationalstaaten, die faktisch Kunstgebilde sind, die auseinanderbrechen und auseinanderbrechen werden, muss man überwinden. […] Wenn dieses edel gewollte, doch unter den beschriebenen Rahmenbedingungen falsch gedachte Völkerrecht unser Denken und Handeln weiter bestimmt, sind Kriege und Konflikte dauerhaft programmiert.“ (S. 14).
Anders gesagt: das Tabu Unantastbarkeit der Nationalstaaten und ihrer bestehenden Grenzen muss überwunden werden. Denn viele der Nationalstaaten in Europa, im Nahen Osten und in Afrika wurden nach dem Ende des Ersten Weltkriegs willkürlich und deshalb als „Todgeburten“ geschaffen. „Wir erleben einen historischen Vorgang, nämlich den Übergang von der zeitweisen, scheinbar stabilen Weltordnung des Kalten Krieges zur WeltUNordnung der Gegenwart und, noch viel heftiger, der Zukunft.“ (S. 21) Mit der Rolle der UNO beschäftigt sich Wolffsohn kaum in seinem Buch, um die Rolle und Verantwortung der UNO zu beschreiben reicht die Schreibweise dieses einen Wortes: WeltUNordnung.
Konkreter ist der Historiker bei der Analyse und Bewertung der Aufteilung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg: „Jedem Volk Selbstbestimmung – das war der Kern der 14 Punkte, die US-Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 der Weltöffentlichkeit vortrug und womit er viele Völker regelrecht elektrisierte. […] Die neue, nach dem Großen Gemetzel entstandene Weltordnung trug weitgehend die Handschrift dieses Mannes, der vor seiner Präsidentschaft Jura- und Ökonomieprofessor sowie Rektor der Eliteuniversität Princeton gewesen war. […] Selbst der Eiliteprofessor wusste nicht, was er tat. Millionen Menschen bezahlten und bezahlen bis heute für sein und seiner Kollegen Unwissen mit ihrem Leben.“ (S. 27) Die Krisenherde in Afrika und Europa, die wir heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben, sind demnach „Die Rache der Geschichte oder die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit“. (S. 26)
Folglich spitzt Wolffsohn seine These zu: „Jede Kommunikationsgruppe, sprich: Nation, will Selbstbestimmung; Selbstbestimmung auf eigenem Gebiet, ohne die Anwesenheit anderer Gruppen auf demselben Territorium. Genau das ist jedoch – nicht nur in Nahost – kaum möglich. Fast überall leben auf dem Territorium eines Staates mehrere, oft viele, mitunter sehr viele nationale, religiöse oder auch ethnisch und sprachlich verschiedene Gruppen. Diese Tatsache schafft eher Misstrauen als Vertrauen, verursacht Konflikte, ist aber selbst zugleich Ergebnis historischer Konflikte.“ (S. 37)
Laut Wolffsohn gibt es derzeit "fünf große sowie zwei kleinere Krisen-, Konflikt-, und Kriegsregionen". (S. 72) Nach Beschreibung der einzelnen Krisenherde, die durch die Breite des Themas ziemlich oberflächlich geraten ist, beantwortet der Autor am Schluss die ewige Frage: „Was also tun? […] Das Schlüsselwort heißt Föderalisierung. Hier muss man zwischen zwei Grundformen unterscheiden: der territorialen und der personalen Selbstbestimmung der jeweiligen Gemeinschaften. Wo gemeinschaftliche Strukturen innerhalb eines Staates territorial zuzuordnen sind, bietet sich die Gründung eines Bundeslandes x, y, oder z innerhalb einer Bundesrepublik A an. Es versteht sich von selbst, dass in dem Bundesland Minderheitenschutz garantiert werden muss. […] Wo Selbstbestimmung der Gemeinschaften territorial nicht möglich ist, wäre sie unabhängig vom Wohngebiet der jeweiligen Gruppe und deren Mitgliedern personal zu gewähren. […] Dieser Ansatz garantiert natürlich nicht die Rückkehr ins Paradies, wohl aber eine deutliche Minderung des Massenmordens. Denjenigen, die sagen, das alles sei unrealistisch, halte ich entgegen: Realistisch ist bislang das Massenmorden – humanitäre Interventionen konnten es nur kurzfristig unterbrechen. Humanitäre Interventionen bekämpfen die Symptome, nicht die Krankehit.“ (S. 189)
Michael Wolffsohn
Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf
München, 2015
Siehe auch: Henry Kissinger und die Weltordnung
Siehe auch: Ist der Westen noch zu retten?
Siehe auch: Václav Havel: Moral und Politik
Siehe auch: Philipp Ther: Eine Geschichte des neoliberalen Europa
Siehe auch: Hubert Thurnhofer: Baustelle Parlament