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13.9.2017 - Politiker ohne Verantwortungsbewusstsein, Konzernbosse denen die Umwelt völlig egal ist - spiegeln sich darin die Zerfalls-Symptome des Westens? Niemand könnte darüber besser Auskunft geben als der Historiker Niall Ferguson (Artikel erschienen in a3 ECO 9/2017)

 

Im Urlaub geistig auftanken und Bücher lesen, das empfiehlt trend-Kolumnist Helmut A. Gansterer seinen Lesern. Das kann ich doch auch mal machen, aber ich gebe hier nicht nur gute Tipps, die dann viel Zeit kosten, ich übernehme auch gleich die Lektüre des 500 Seiten Schmöckers „Der Westen und der Rest der Welt“ von Niall Ferguson. Hier die Kurzfassung mit ein paar Anmerkungen zu aktuellen Ereignissen:

 

Mit seinem Buch möchte der Professor für Geschichte an der Harvard University zeigen, „dass es sechs Bereiche von neuartigen Institutionen und die damit verbundenen Ideen und Verhaltensweisen waren, die den Westen vom Rest der Welt unterschieden und seine globale Macht begründeten.“ Diese Institutionen, Ideen und Verhaltensweisen fasst Ferguson in sechs Schlagworte, sogenannte „Killerapplikationen“: Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentumsrechte, Medizin, Konsumgesellschaft, Arbeitsethik, die somit explizit zu Grundwerten jener Zivilisation erklärt werden, die Ferguson als „der Westen“ bezeichnet.

 

Zunächst ist wichtig zu verstehen, wie Ferguson die Aufgabe eines Historikers definiert: „Der Historiker ist kein Naturwissenschafter. Aus seinen Beobachtungen können keine allgemeingültigen Gesetze für gesellschaftliche und politische Abläufe abgeleitet werden, … Die eigentliche Funktion der historischen Erkenntnis besteht darin, die Menschen über die Gegenwart aufzuklären, da der sichtbare Inhalt der Vergangenheit ein 'für das ungeschulte Auge nicht auf Anhieb erkennbarer' Bestandteil der Gegenwart ist und einen Teil von ihr darstellt.“

Was ist eine Zivilisation? Ferguson zählt dazu Abwasserkanäle ebenso wie Kunstwerke: „Ich bekenne mich dazu, dass mir der Preis eines Kunstwerkes ebenso wichtig erscheint wie sein kultureller Wert. … Eine Zivilisation ist eine extrem komplexe menschliche Organisation. Die Gemälde, Statuen und Gebäude, die sie hervorbringt, mögen ihre auffälligsten Leistungen sein, aber sie sagen uns nichts über das Wesen dieser Zivilisation, wenn wir nicht wissen, von welchen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen sie in Auftrag gegeben, bezahlt, gebaut und für uns erhalten wurden.“

 

Den Ursprung des Wettbewerbs findet der Historiker in der Zerrissenheit des Kontinents: „Im 14. Jahrhundert gab es in Europa etwa tausend Staatsgebilde, und zwei Jahrhunderte später existierten immer noch etwa 500 mehr oder weniger unabhängige staatliche Einheiten. … vor allem sorgte der innereuropäische Konflikt, der sich über Generationen hinzog, dafür, dass kein europäischer Monarch je stark genug wurde, um die Seefahrt in ferne Länder zu unterbinden. … Die europäischen Monarchen förderten allesamt Handel, Eroberung und Kolonisierung, um im Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten.“ Gleichzeitig ist China zum „Reich der Mittelmäßigkeit verkommen, das den von anderen Völkern hervorgebrachten Neuerungen feindselig gegenüberstand.“

 

Angesichts der wissenschaftlichen Leistungen Europas von Paracelsus über Kopernikus, Galileo, Descartes, Newton bis de Lavoisier kritisiert Ferguson die Kritiker des Eurozentrismus: „Gemessen am Maßstab der Wissenschaftlichkeit war die wissenschaftliche Revolution ein durch und durch eurozentristisches Phänomen.“ Im gleichen Absatz rückt er jene Theorien zurecht, die den Islam als Vorreiter der europäischen Wissenschaften sehen: „Im Gegensatz dazu gab es im Osmanischen Reich im selben Zeitraum keinerlei wissenschaftliche Fortschritte.“ Ferguson beschreibt damit den Zeitraum von 1530 bis 1789 und erwähnt ein unglaubliches aber typisches Ereignis: „Den Osmanen war die Schrift heilig. Die Schreibfeder genoss religiöse Verehrung, … Im Jahr 1515 erließ Sultan Selim I. ein Dekret, mit dem die Verwendung der Druckerpresse unter Androhung der Todesstrafe verboten wurde.“

 

Das Kapitel über Eigentum beginnt Ferguson mit einem Zitat des Philosophen John Locke, der 1669 die „Fundamental Constitutions of Carolina“ geschrieben und wesentlich geprägt hat: „Freiheit heißt aber nicht … eine Freiheit für jeden zu tun, was ihm gefällt … sondern eine Freiheit innerhalb der erlaubten Grenzen jener Gesetze, denen er untersteht, über seine Person, seine Handlungsweise, seinen Besitz und sein gesamtes Eigentum zu verfügen und damit zu tun, was ihm gefällt, ohne dabei dem eigenmächtigen Willen eines anderen unterworfen zu sein, sondern frei dem eigenen zu folgen.“ Locke verknüpft hier Freiheit und Eigentum in der für die USA bis heute typischen Weise und sieht sogar das „hauptsächliche Ziel“ jedes Staatswesen in der Erhaltung des Privateigentums.

 

Dass das Eigentumsrecht der europäischen Siedler mit der Enteignung der Indianer einher ging, und die Vermehrung des Reichtums hart erarbeitet war, nämlich auf dem Rücken der afrikanischen Sklaven, hat Ferguson natürlich auch bemerkt und kritisch analysiert. Allerdings weist er auch darauf hin, dass ein Sklavenmarkt wie jeder Markt nur dort funktionieren kann, wo es Käufer und Verkäufer gibt. „Die afrikanischen Sklavenverkäufer … belieferten die Europäer genauso bereitwillig wie die traditionellen arabischen Kunden.“ (Ergänzung 13.6.2020: NZZ berichtet über Sklavenhandel - das blutige Kapitel des britischen Wohlstandes.)

 

Beim Thema Medizin sieht Ferguson den Kolonialismus und den 1. Weltkrieg als Triebfeder des Fortschritts, denn ohne Kolonialismus gäbe es keine Tropenmedizin und Hygiene, und ohne Weltkrieg weniger Fortschritte in der Chirurgie. In der Entwicklung der Konsumgesellschaft bemerkt Ferguson, dass die Industrielle Revolution im Kern eine Textil-Industrielle Revolution war, die mit der Automatisierung der Webstühle begann, die aber erst mit der Erfindung der Nähmaschine durch Isaac Merrit Singer im Jahr 1850 richtig abheben konnte, und mit der Erfindung der Jeans, die sich Levi Strauss 1873 patentieren ließ, ihren Höhepunkt fand. Schließlich hat die Umwertung des Begriffs der Arbeit durch die protestantische Arbeitsethik zu abschließenden Festigung der westlichen Zivilisation beigetragen: „Im Verlauf der Geschichte hatten die Menschen meist gearbeitet, um zu leben. Die Protestanten lebten jetzt jedoch, um zu arbeiten.“

 

USA und Europa driften auseinander

  

Zdrahal Trump u WESTEN 250

„Selbst Ende der 1990er Jahre war der Westen immer noch ganz klar die dominierende Zivilisation auf der Welt. … Inzwischen hat sich das jedoch alles geändert,erklärt Ferguson und stellt vorsichtig die Frage: „Erleben wir gerade den Niedergang des Westens?“ Bei der Beantwortung dieser Frage bleibt der Historiker diplomatisch und vorsichtig, ich würde dagegen eindeutig sagen: ja! Aus zwei Gründen: Verlust der Einheit und Verlust der Moral.

 

Man kann heute nicht mehr vom „Westen“ in der geografischen Einheit Europa-Nordamerika sprechen, denn Eurozentrismus und Amerikanismus passen nicht mehr zusammen. Nur drei Beispiele, in der amerikanischer und europäischer Common Sense weit auseinander klaffen:

- Umweltschutz

- Schutz des Lebens

- Schutz des Eigentums.

   Mehr über Niall Fergoson siehe MORAL 4.0

 

In Europa gibt es derzeit keinen Menschen, der am Klimawandel zweifelt und Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes als überflüssig erachtet. Präsident Donald Trump hat dagegen Anfang Juni den Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen erklärt, das 195 Staaten unterzeichnet haben. Dafür erlaubt Amerika Fracking, eine Methode der Erdölgewinnung, bei der mit maximaler Umweltbelastung und Gefährdung der Grundwässer die letzten Tropfen Erdöl aus dem Boden gepresst werden. In Europa findet man sogar in der Erdölindustrie kaum Vertreter, die diese Form der Ölgewinnung befürworten.

 

Amerikaner engagieren sich gerne für den Schutz des ungeborenen Lebens, haben aber nicht das geringste Problem auf Kinder oder Erwachsene zu schießen, wenn diese ungefragt ihr Grundstück betreten. Privater Waffenbesitz ist für Amerikaner so unantastbar wie die Religionsfreiheit, geradezu ein substanzieller Bestandteil ihres Freiheitsbegriffes. Der Europäer ist dagegen überzeugt, dass privater Waffenbesitz die allgemeine Sicherheit nicht erhöht, sondern im Gegenteil. In Europa wird man kaum einen Menschen finden, der die Todesstrafe fordert, in Amerika wird die Todesstrafe von der Mehrheit als sinnvolles und notwendiges Instrument zur Verbrechensbekämpfung gesehen.

 

Das Eigentum ist für Europäer etwas, das über Generationen aufgebaut und weiter gegeben wird. Wie gewonnen so zerronnen denkt der Amerikaner und zieht weiter. Im Unterschied zum Europäer hat er auch die (fast) unbegrenzte Möglichkeit dazu, denn Amerikaner können tatsächlich an einem neuen Ort bei Null beginnen. Ein kleiner aber substanzieller Unterschied im Bankwesen macht das möglich: Hypothekarschulden sind in Amerika regressfrei, das bedeutet, sie sind 100-prozentig getilgt, wenn die Bank die Hypothek einzieht. In Europa wird die Schuld dagegen nur in der Höhe getilgt, welche die Bank beim Verkauf der Hypothek erzielen kann. Der Europäer bleibt somit oft lebenslang in Geiselhaft der Bank.

 

Verlust der Verantwortung

 

„Ich tue dies im Interesse des Unternehmens, obwohl ich mir keines Fehlverhaltens bewusst bin.“ Mit diesen Worten hat sich VW-Vorstand Martin Winterkorn vor zwei Jahren nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals aus dem Unternehmen verabschiedet. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst, weil ich ja nicht jeden auswärtigen Berater in einem Wahlkampf einem Röntgen unterziehen kann." Mit diesen Worten hat Christian Kern versucht, sich aus der sommerlichen Silberstein-Affäre zu ziehen. (Nebenbei bemerkt: wie viele Berater dieser Sorte tummeln sich eigentlich in der SPÖ-Zentrale?)

 

Es ist evident, dass ein Vorstand eine Schutzbehauptung streut, um damit die Ansprüche auf seine Abfertigung zu sichern. Doch warum verhöhnt ein Spitzenpolitiker, der Bundeskanzler bleiben will, seine Wähler und vor allem seine Parteibasis? Die Kern-Argumente im O-Ton (zitiert nach „Österreich“, 16.8.2017): „Herr Silberstein hat für uns Umfragen analysiert und Stimmungen beobachtet, das kann er exzellent.“ Das ist absolut überzeugend, denn „der Mann kann kein Wort Deutsch!“ Die Chuzpe, einem Berater, der „ganz sicher nur eine Nebenrolle im Wahlkampf-Team gespielt“ hat, für das Beobachten von Stimmungen 400.000 Euro zu überweisen, wird sicher die Parteisoldaten begeistern, die in ihrer Freizeit ehrenamtlich alles unternehmen um für die SPÖ Stimmung zu machen.

 

Diese zwei Beispiele sind keine Ausnahme, sondern die Regel für das Verhalten von Funktionären, die „Verantwortung tragen“. Je höher die finanzielle Abfindung für die „Last“ der Verantwortung, umso größer die Nonchalance, mit der diese Entscheidungsträger im Krisenfall einzig und allein ihre Eigeninteressen verteidigen. Mehr als das Auseinanderdriften von Amerika und Europa ist dieser Verfall von Sitten und Anstand ein Alarmzeichen und ein Hinweis darauf, dass „der Westen“ als Zivilisation kurz vor dem Ende steht.

 

Ferguson erinnert daran, dass „die westliche Zivilisation in ihrer ersten Verkörperung, dem Römischen Reich, keinen langsamen und gemächlichen Niedergang und Fall erlebte. Tatsächlich brach sie innerhalb einer einzigen Generation zusammen“. Das 21. Jahrhundert ist so gesehen der Anfang vom Ende des Westens. Indessen können wir den „Aufstieg des chinesischen Drachen“ miterleben. Auch wenn der Historiker dafür noch viele Barrieren sieht – mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, mögliche soziale und politische Unruhen – so sieht Ferguson doch gute Chancen für Chinas neue Strategie: „1. Mehr konsumieren, 2. Mehr importieren, 3. Mehr im Ausland investieren, 4. Mehr Innovation. Ein auf diesen vier Punkten beruhender Wechsel der Wirtschaftsstrategie wird in jedem Fall eine schöne geopolitische Dividende abwerfen.“

 

Niall Ferguson

Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen.

Berlin, 2011

 

Mehr über Niall Fergoson siehe MORAL 4.0

Siehe auch: Henry Kissinger und die Weltordnung

Siehe auch: Atlantische Bruchlinien. Gastkommentar in der Wiener Zeitung

 

 

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