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Welche moralischen Konsequenzen ergeben sich aus dem Verlust des Handlungsbegriffes? Aussagen der Ethik betreffen doch direkt das Handeln des Menschen: du sollst ..., oder: du darfst nicht ..., oder: handle stets nach derjenigen Maxime ..., sodaß man sagen könnte, Ethik wird überhaupt erst notwendig, wenn der Mensch die volle Möglichkeit hat zu handeln. Wenn er diese Möglichkeit hat, aber anderseits der Begriff des Handelns verloren gegangen ist, so stellt sich die Frage, wie eine Ethik noch möglich sein kann. Ist das Verlangen nach einer Ethik dann eine sinnlose Forderung, oder kann umgekehrt durch die Ethik der Begriff des Handelns wiedergewonnen werden?

 

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 INHALT des Buches MORAL 4.0, Oktober 2017

 

Bezeichnend ist zunächst, daß Musil nirgends von Ethik, sondern immer von Moral spricht. Ethik könnte man als eine philosophische Disziplin bezeichnen, die moralische Regeln systematisch begründen will, während Moral diese Regeln schafft, sodaß man Moral produktiv und Ethik reproduktiv nennen könnte. Der Moralist setzt kommunikative Regeln, kreiert Muster für Verhaltensweisen, aber determiniert er damit das Handeln des Einzelnen? Als Realist muß man sagen: dazu fehlt ihm die nötige Macht. Aber hat die Legislative mithilfe der Exekutive die Macht, das Handeln des Einzelnen zu bestimmen? Und gäbe es noch die Möglichkeit zu Handeln, wenn sie diese Macht hätte?

Ist diese Möglichkeit gegeben, so stellt sich die Frage: wie handle ich richtig? Ulrich stellt im Gespräch mit Diotima diese Frage in einem scheinbar sinnlosen Kontext: "Haben Sie schon je einen Hund gesehen?" fragte er. "Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das wieder kein anderer Hund hat. Wie sollen wir da je im Leben 'das Richtige' tun? Wir können nur etwas tun, das niemals das Richtige und immer mehr und weniger als etwas Richtiges ist." (MoE 572)

Die Anspielung an das Universalienproblem, ob es außer einzelnen Hunden auch so etwas wie ein "Hundeigsein" gebe, ist nur vordergründig. Hintergründig wird damit auf ein grundsätzliches Problem der Sprache hingewiesen: wenn es schon schwer ist, mit einem gegenständlichen Begriff wie "Hund" das Richtige zu verbinden, (74) wie soll es darm möglich sein, Begriffe wie Handlung, Möglichkeit oder Wahrheit richtig anzuwenden? Man könnte sagen, probieren geht über studieren, aber probieren ohne ein vorhergehendes Wissen davon, was man eigentlich ausprobieren will, führt leicht in die paradoxe Situation, daß man nichts mehr probieren und ebenso wenig studieren karm.

Wie soll man das Richtige tun, könnte man präzisieren: wie kann man handeln, ohne daß die zugrundeliegende Möglichkeit in Willkür umschlägt? Die Moral bietet sich als Regulativ an. Aber wirkt Moral damit nicht restriktiv in bezug auf die Möglichkeit, sodaß man sagen muß: Moral schlägt um in Willkür? „Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken.“ (MoE 1024) Diese Aussage scheint die These von der restriktiven Moral zu bestätigen. Aber welche Umschreibung gibt Musil außerdem für den Begriff der Moral? Und welche Funktion hat sie? Wenn man Musils Reflexionen nachvollzieht, so muß man immer sein wirklichkeitskritisches von seinem realutopischen Anliegen unterscheiden. Da Ulrich noch zusätzlich betont, "daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht" (MoE 1024), wird klar, daß er hier den status quo kritisiert. Moral regelt nicht nur die gesellschaftlichen Umgangsformen, sondern ihre Restriktion karm noch viel weiter gehen, indem sie auch Gefühle und Gedanken des Einzelnen reguliert. Die Formel, mit der Moral in das Alltagsbewußtsein infIltriert wird, was gleichzeitig der Formel entspricht, die das Alltagsbewußtsein aus einer gegebenen Moral herausftltert, bestätigt den Zusammenhang von Moral, Fühlen und Denken. Diese Formel heißt: das ist bei uns so Sitte. Diese Formel äußert sich in zahlreichen Variationen (das gehört sich nicht, das war schon immer so, was werden die Leute denken, usw.). Gerade die Unpersönlichkeit dieser Formel ermöglicht es, sich diese Formel persönlich anzueigenen. Moral erzeugt auf diese Weise Konformismus, und das zeigen auch die verschiedenen Ausbruchsversuche aus der dominierenden Moral.

Rock, Punk, aber auch die sogenannten Sekten spiegeln ein kritisches Verhältnis zur herrschenden Moral; aber Nonkonformismus nach außen verhindert nicht das Entstehen eines neuen, gruppeninternen Konformismus. Somit gibt es verschiedene, mehr oder weniger stark verankerte Moralen, aber sie unterscheiden sich nur punktuell im Inhalt, und nicht strukturell in ihrer Funktion. Das unpersönlicheman (das tut man nicht!) beansprucht seine Gültigkeit für eine mehr oder weniger große Personengruppe, aber es dominiert in jedem Fall das Denken und Fühlen.

Der kritische Hinweis auf diesen engen Zusammenhang enthält aber gleichzeitig einen utopischen Aspekt. War Moral bis jetzt immer Gegenstand der praktischen Vernunft und Antwort auf die Frage "was soll ich tun?", so wird die Möglichkeit der Moral hier erweitert. Wenn nämlich Moral auf das Fühlen und Denken zurückwirken kann, so muß man umgekehrt auch fragen, wie sich Fühlen und Denken auf die Moral auswirken können. In einem anderen Gespräch mit Diotima konstatiert Ulrich: „Es ist einfach schwer in der Welt das Richtige zu fühlen! Ganz entgegen einem allgemeinem Vorurteil gehört beinahe Pedanterie dazu. [...] Denn nur wenn Menschen ganz sachlich wären - und das ist ja beinahe dasselbe wie unpersönlich -, dann wären sie auch ganz Liebe. Weil sie nur dann auch ganz Empfindung und Gefühl und Gedanke wären.“ (MoE 476)

Die Frage, "wie soll man das Richtige Fühlen?" ergänzt die Frage "wie soll man das Richtige tun?", und sie hebt die konventionelle Fragestellung gleichzeitig auf. Die Forderung, das Richtige zu Fühlen, ist ein moralisches Postulat, und nur in diesem Kontext sinnvoll. Würde man diese Forderung beispielsweise psychologisch interpretieren, wäre sie höchst problematisch (man braucht bloß daran zu denken, wie man dem Pawlowschen Hund das Fühlen beibringt).

Worin liegt der moralische Sinn dieses Postulats, und welche Bedeutung hat es? Wenn Moral nicht nur "Sache der Vernunft", sondern ebenso auch "Gefühlssache" ist, so muß einerseits das Gefühl von seiner Identiftkation mit dem Irrationalen, in dem nur die ambivalente Willkür des persönlichen Geschmacks zählt, befreit werden, anderseits darf das Gefühl nicht am Anspruch des Rationalen gemessen werden, denn wer das Gefühl rationalisiert, muß daran scheitern, daß er es letzlich wegrationalisiert. Musils Unterscheidung von Ratioldem und Nichtratioldem ist ein erster Annäherungsversuch von Denken und Fühlen. Denken wird hier nicht mit Vernunft identiftziert, sondern Denken im allgemeinen folgt ähnlichen Regeln wie rationales Denken im besonderen. Denken macht etwas bewußt. Fühlen wird hier nicht einseitig als irrational und das heißt letzlich immer: als unvernünftig abgetan, sondern es wird nur festgehalten daß Gefühl und Vernunft keine formalen Ähnlichkeiten aufweisen. Man könnte auch sagen: das Gefühl wird nicht als irrational abgetan, sondern als nichtratioid anerkannt.

Besonders intensiv beschäftigt sich Musil in den Nachlaßkapiteln mit Fragen des Gefühls. Er untersucht Dauer und Identität des Gefuhls, hinterfrägt den Zusammenhang und Unterschied zwischen Fühlen und Denken, und stellt die Frage, ob das Gefühl ein Vorgang oder ein Zustand sei. Ist die Innenwelt der Gefühle bedingt durch die Außenwelt, oder schafft sich umgekehrt jedes Gefühl seine eigene Welt? Kann man ein reines Gefühl bestimmen, oder sind Gefühle immer unbestimmt und daher unbestimmbar? Was unterscheidet weltliche von mystischen Gefühlen?

Im Kontext von Gefühl und Moral ist folgende Aussage von Interesse: „das Gefühl ist nicht wahr oder falsch! Das Gefühl ist Privatsache geblieben! Es ist der Suggestion überlassen geblieben, der Einbildung, der Überredung!“ (MoE 1027) Diese Aussage korrespondiert mit der Feststellung, daß moralische Sätze "weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität" (MoE 254) seien. Gefühl wie Moral laufen Gefahr, Privatsache zu bleiben. Damit sie einerseits nicht in die Willkür des Privaten zurückfallen, anderseits nicht mit inadäquaten Kriterien gemessen werden, ersetzt Musil Wahrheit durch Richtigkeit.

Der Satz: du sollst nicht töten, ist keine Wahrheit, d.h. er ist weder rational, noch empirisch verifizierbar (genauswenig wie falsifizierbar), er ist auch keine Subjektivität, obwohl er sich letzlich auf Gefühle berufen kann. Das Gefühl kann einen moralischen Satz zwar nicht begründen, aber die Moral kann sich auf das Gefühl berufen - allerdings nur dann, wenn das Gefühl richtig ist.

Und, lapidar gefragt, wer bestimmt, ob ein Gefühl richtig ist? Vergleiche: ein Gefühl bewußt machen, und: ein Gefühl berechenbar machen. Letzteres entspricht der Fähigkeit des Schauspielers (und wir wissen, daß Politiker oft gute Schauspieler sind). Gefühle bewußt zu machen heißt einerseits, die Spaltung zwischen Denken und Fühlen aufzuheben, anderseits, die Tabuisierung des Gefühls zu überwinden. Denn tabuisiert wird das Gefühl sowohl durch die Aussage "das ist Gefühlssache", was impliziert, daß man darüber nicht mehr reden könne, als auch durch die Verdrängung des Gefühls in den Bereich des Unbewußten, was impliziert, daß es nicht bewußt sein könne. Ein richtiges Gefühl könnte man auch als bewußtes Gefühl bezeichnen. Es ist kein ethisches Urteil über ein Gefühl, wenn man es als richtig bezeichnet, sondern als richtig wird ein für die Moral relevantes Gefühl bezeichnet; und das sind eben nur Gefühle, die bewußt (man könnte auch sagen: öffentlich) geworden sind.

Pedanterie und Sachlichkeit (man könnte ergänzen: Genauigkeit) sind so gesehen Metaphern für das Bewußtsein. Denn würde man Pedanterie und Sachlichkeit wörtlich nehmen als Bedingung der Möglichkeit, das Richtige zu fühlen, so wäre das nichts anderes, als vom Gefühl zu verlangen, gefühllos zu sein. So wie man von Politikern heute zurecht die Offenlegung ihres Einkommens fordert, so muß man von Moralisten die Offenlegung ihrer Gefühle (bzw. der Bezugsquelle ihrer Gefühle) fordern. Aber wie weiß man, ob einer seine wirklichen Gefühle zeigt, oder ob er sich verstellt? Man hat ja auch zu erkennen gelernt, ob einer seine wirkliche Meinung sagt, oder ob er sich verstellt.

Wie ist nun das Handeln im Fühlen konkret aufgehoben? Wird die Frage "was soll ich tun?" ersetzt durch die Frage "was soll ich fühlen?" Das kann man doch nicht anordnen oder vorschreiben, könnte jemand einwenden, Gefühle sind doch spontan! Das ist eines jener Vorurteile, die man nicht unkritisch übernehmen sollte. Auch Meinungen, Gedanken, dumme oder gescheite Einfälle können spontan sein. Aber keiner käme auf die Idee, diese wegen ihrer Spontaneität nicht zu hinterfragen, gleichsam auf die Spontaneität ihre "höhere Autorität" zu gründen (abgesehen von der Neigung, Spontaneität "Intuition" zu taufen, und sie so unantastbar zu machen). Umgekehrt kann eine Meinung auch Ergebnis langer Überlegungen, aber auch propagandistischer Beeinflussung sein. Und sollte das nicht auch für Gefühle gelten?

Der Einfluß auf Gefühle bleibt meist unbemerkt und unbewußt. Die Frage "was soll ich fühlen?" ist daher der Versuch, fremden Einflüssen auf meine Gefühle entgegen zu wirken und gleichzeitig mein eigenes Bewußtsein auf meine Gefühle einfließen zu lassen. Die Frage "was soll ich fühlen?" bringt aber auch die Frage "was soll ich tun?" auf den Punkt, und dieser Punkt heißt: "wie soll ich mich entscheiden?"

Eine Entscheidung muß begründet werden. Diese Forderung impliziert, daß Entscheidungen überhaupt begründbar seien. Ich halte diese Implikation für einen Irrtum: Entscheidungen sind nicht begründbar, sie sind bestenfalls legitimierbar. Vielleicht sollte man präzisieren: Entscheidungen im Rahmen einer Handlung sind nicht begründbar (es gibt ja auch Entscheidungen im Rahmen einer Tätigkeit, die innerhalb dieses Rahmens sehr wohl logisch begründet werden können). Zu sagen, "ich habe mich; so entschieden, weil ...", ist zwar eine gängige Argumentationsstruktur, aber sie erklärt nicht mehr als die einfache Feststellung "ich habe mich entschieden". Die Entscheidung wird nämlich vom Gefühl mindestens so sehr motiviert, wie von meinen rationalen Überlegungen. Wer nun seine Entscheidung versucht zu begründen, d.h. zu rationalisieren, dem passiert unweigerlich, daß er die eine Hälfte seiner Entscheidung (die Gefühlshälfte) wegrationalisiert. Aber wie kann man seine Entscheidung legitimieren, wenn schon nicht fundieren? Man kann sich auf sein Gefühl berufen, wenn man es möglichst genau beschreibt und somit offenlegt (und ob diese Offenlegung als Legitimation anerkannt wird, liegt wieder in der Entscheidung anderer).

Wenn man nun die Frage "wie soll ich mich entscheiden?" präzisiert und frägt "wie soll ich mich richtig entscheiden?" so ist die Antwort darauf: "indem du dich überhaupt entscheidest" (und das ist nichts anderes als die Aufforderung "handle wie du willst - sofern du überhaupt handelst") Eine moralische Entscheidung kann also nicht richtig oder falsch sein, sondern sie kann in diesem spezifischen Sinne nur richtig sein (eine unrichtige moralische Entscheidung wäre nämlich weder eine Entscheidung, noch moralisch). Welche Rolle spielen dann noch die alten moralischen Beurteilungskriterien wie gut und böse?

Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine "Konstanten" sind, sondern "Funktionswerte", so daß die Güte der Werke von den geschichtlichen Umständen abhängt und die Güte der Menschen von dem psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaften auswertet!“ (MoE 37)

Gut und bös sind keine absoluten Werte, sie sind auch keine relativen Werte (denn relativ wozu, müßte man fragen), sondern sie sind etwas ganz anderes, nämlich "Funktionswerte". Dieser Begriff wird ironisch verfremdet, wodurch sich seine Problematik zeigt: Werte variieren je nach Geschicklichkeit und Ausgangpunkt der Be-Wertung. Aber trotzdem darf man den konstruktiven Gehalt dieser Aussage nicht unterschätzen. Viel später, in einem Gespräch mit Agathe, wird Ulrich darauf angesprochen, "daß die gleiche Handlung gut oder bös sein kann, je nach dem Zusammenhang" (MoE 748), und Musil kommentiert: „Ulrich stimmte zu. Das war seine Theorie, daß die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien. Wenn wir aber moralisieren und verallgemeinern, so lösen wir sie aus ihrem natürlichen Ganzen.“ (MoE 748)

Die Pointe liegt in der Feinheit der Differenzierung zwischen Funktionswert und Funktionsbegriff: gut und bös sind nicht bloß als Elemente einer funktionalen Abhängigkeit zu verstehen, die ihren Wert je nach Zusammenhang ändern, sondern gut und bös können als Funktionsbegriffe im "natürlichen Ganzen" verschiedene Funktionen innehaben. Wenn gut und bös üblicherweise im Begriffe sind, moralische Urteile abzugeben, so ist das nur eine ihrer Funktionen. In einer anderen Funktion sind gut und bös Metaphern für Glaube und Zweifel: "Alle Sätze der Moral" bestätigte Ulrich "bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt bereits entflohen ist!" "Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube - oder Zweifel!" rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden. (MoE 762)

Sind moralische Forderungen demnach so unrealisierbar wie Träume? Sie sind so realisierbar wie Träume, d.h. sie unterscheiden sich von der Realisierung technischer Pläne, in denen jedes Detail im voraus berechnet werden kann. Die' Realisierung eines Traumes ist auch nicht so eng zu sehen wie in der Psychoanalyse, die meint, jeder Traum sei ein Wunschtraum, und jeder Wunsch sei ein sexueller Wunsch. Träume symbolisieren in der Psychoanalyse schematisierbare Abläufe des Unbewußten; d.h. Träume realisieren verborgene Wünsche. Träume symbolisieren aber auch die unbegrenzte Möglichkeit; und in diesem Sinne können sie nicht in Regeln gefaßt werden, wie es die Psychoanalyse versucht. Der gemeinsame Nenner von Traum und Moral liegt in der Unmöglichkeit, sie zu regelmentieren, anders gesagt: im Element der Spontaneität. Im Unterschied zum Gefühl, das spontan sein kann (es aber meistens nicht ist) impliziert Moral den Begriff der Spontaneität, d.h. das Spontane ist ein wesentliches Moment der Moral. Das Spontane (und Kreative) der Moral ist in den Regeln der Ethik nicht mehr enthalten, es liegt in der Entscheidung zu einer Moral, bzw. im Glauben an eine Moral. Der Glaube (an eine Moral, oder an eine Religion, oder an ein anderes Wertesystem) ist zwar vermittelt durch Denken und Fühlen, aber "der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens" ist die Spontaneität. Der Glaube an eine Moral entzieht sich deshalb der Begründung, er ist eine Entscheidung (und insofern wohlüberlegt als auch spontan), und kann "nicht eine Stunde alt werden" (sonst geht das Element der Spontaneität verloren). Der Verlust des Glaubens in der Moral, d.h. in den gängigen Versuchen, Moral zu begründen, ist daher zwangsläufig. Wenn für ein moralisches Urteil aber unser Glaube (oder auch unser Zweifel) relevant ist, dann werden die Beurteilungskriterien gut und bös irrelevant, denn Beurteilungskriterien (Elemente der Berwertung) ändern so gesehen ihren Inhalt in (fast) jeder Situation.

Auch die Motivationsethik bietet keinen Ausweg aus diesem Dilemma (sie verschiebt die Beurteilung nur von der Tat auf das Motiv). Aber gibt es überhaupt einen Ausweg aus einem solchen Dilemma? Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, es durch den Glauben zu umgehen. Der Glaube darf aber nicht "Glaubenssache" bleiben, sondern muß, gleich wie das Gefühl, legitimiert und offengelegt werden. Wenn jemand meint, ein Glaube, der sich nicht legitimieren lasse, sei ein blinder Glaube, so meine ich, er hat recht. Wer aber meint, ein Glaube, der sich rechtfertigen lasse, müsse sich auch begründen lassen, der sucht keinen Ausweg aus dem blinden Glauben, sondern einen Ausweg aus seinem blinden Mißtrauen.

In einer anderen Funktion sind gut und bös Metaphern für Konvention und Kritik. „Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische gewinnt sein himmliches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht. Es straft Lügen.“ (MoE 959)

Auf die Frage "sind Sie für das Gute oder für das Böse?" wird man normaler Weise für das Gute stimmen. Die Frage ist aber nicht trivial, sie zeigt vielmehr, daß die gängige Antwort trivial ist, daß die Zustimmung zum Guten ein Gemeinplatz ist. Jeder ist im Grunde seines Herzens ein guter Mensch, heißt es. Man sollte dieses optimistische Menschenbild nicht leichtfertig destruieren, aber die Frage stellt sich doch, warum es dann noch Verbrechen gibt, denn im "Grunde seines Herzens" wird es auch der Verbrecher gut gemeint haben. Der Konsens in der Befürwortung des Guten ist so groß, daß die Kritik daran selbst als böse gelten muß. Aber das Böse, das Unmoralische entlarvt das, was als Moralisch gilt. Hinter der Larve der allgemeingültigen Moral verstecken sich die Trivialität von Gemeinplätzen und die höhere Autorität der Tradition. Wer sich der Konvention entzieht, wer die tradierte Moral nicht einfach übernimmt, ist im konventionellen (aber auch im hegelianischen) Sinn böse, d.h. er negiert die treibenden Strömungen und realisiert eine andere Möglichkeit.

Eine andere Funktion nehmen gut und böse ein, wenn Ulrich betont, "daß das Geistige und Gute ohne Mithilfe des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfahig sei" (MoE 415). Das Geistige wird hier nicht unkritisch mit dem Guten identifIziert und das Materielle mit dem Bösen, das heißt hier wird keine Wertung ausgesprochen, sondern eine dialektische Einheit vermittelt (es könnte auch eine nichtdialektische Einheit gemeint sein, denn die Einheit von Geist und Körper ist ein Postulat, das wir seit der Antike kennen). Gut und bös sind darin längst keine moralischen Beurteilungskriterien mehr, sondern stehen ganz allgemein als Metapher für die spezifische Dualität des Ungetrennten und Nichtvereinten.

 

Anmerkungen:

74 Der Einwand, "Hund" sei eben ein Gattungsbegriff und könne deshalb

nicht mit einem konkreten Gegenstand verknüpft werden, ist

nicht haltbar, denn nach welchen Regeln ist etwas ein Gattungsbegriff?

Ist "Teddybär" ein Gattungsbegriff, oder der Name eines

konkreten Gegenstandes?

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